Boom in der Nachhilfe?
Es gibt Allgemeinplätze der Bildung, z. B. alle Lehrer sind faul, ohne Noten lernen Kinder nichts, die Nachhilfe boomt. Begegnen sie mir, dann schalte ich normalerweise sofort ab. Als „Appsolutely smart!“, das Ergebnis der neuen Studie Jugend.Leben vom Bertelsmann Verlag veröffentlicht wurde, kam sofort das Thema „Die Nachhilfe boomt!“ wieder in der Presse auf, obwohl es in der Studie nur eine untergeordnete Rolle spielte. Hier steht auf Seite 154: „Gerade wenn es um die Frage der Leistungsfähigkeit bzw. der Verbesserung der schulischen Leistungen geht, spielt Nachhilfe (…) eine große Rolle.“ Die Anzahl der Schüler, die Nachhilfe nehmen, blieb gleich (jeder fünfte Schüler). Na klar, dachte ich bei mir, spielt Nachhilfe bei der Leistungsverbesserung eine große Rolle.
Gerade wollte ich mich einem anderen Thema zuwenden, da erhielt ich eine Einladung von Pisa Plus zu diesem Boom-Thema. Darüber habe ich mich sehr gefreut. Nun musste ich mich natürlich mit dem schlechten Ruf von Nachhilfe auseinandersetzen. Dazu müsst ihr wissen, als wir das Lernwerk gegründet haben, kam das Wort Nachhilfe gar nicht vor. Mein Bruder und ich haben es stets umschrieben, denn wir wollten mehr als Nachhilfe machen.
Zwei Tage debattierte ich das Thema Nachhilfe in meinem Kopf hin und her. Feststeht: Einen Boom gibt es nicht, eher eine Stagnation. Wohl aber eine neue Diskussion über die Qualität von Nachhilfe. Gut so! 70 % der Nachhilfe wird von Einzelpersonen wie Schülern, Bruder, Student, Oma zu Hause gegeben. Es ist schwierig, die Qualität zu bewerten. Umso wichtiger, dass Nachhilfe, die in einem Institut ausgeführt wird, sich der Qualitätsfrage stellt und sie zu beantworten weiß. Dies wird bereits versucht, indem es klare Statuten gibt, z. B. für Einrichtungen, die dem VNN angehören, wie kurze Vertragslaufzeiten, einen pädagogisch geschulten Leiter, Erreichbarkeit des Instituts. Dinge, die für das Lernwerk immer selbstverständlich waren. Gegenwärtig ist unser Schulsystem nicht in der Lage, Kinder individuell zu fördern. Der Kostenaufwand wäre riesig und man müsste außerdem vieles grundsätzlich überdenken, z. B. unsere Art der Notengebung.
Wenn ich viele negative Berichterstattungen über Nachhilfe höre, versuche ich das mit meiner Lebenswirklichkeit im Lernwerk in Verbindung zu bringen. Hier sehe ich 200 engagierte Lehrkräfte, die an Universitäten studieren und bei uns Praxiserfahrung sammeln. Sie lassen sich Tutorwatch-zertifizieren, nehmen an Schulungen teil und kommen nach langen Uni-Tagen noch zu unseren Fortbildungen über Motivation oder Stochastik für Jedermann. Sie unterrichten ihre Schüler mit guten Methoden und individueller Zuwendung.
Ich denke an unsere Leiter und Leiterinnen, die als „Mutter und Vater“ für alle Sorgen tagtäglich ein offenes Ohr haben und die den Kindern und Jugendlichen das Lernen beibringen. Ich denke an unsere Schüler, von denen wir so gutes Feedback bekommen und denen man den Spaß am Unterricht ansieht. Ich denke an unsere entlasteten Eltern, an unser Büro, was unentwegt Wünsche entgegen nimmt. Und an meinen Bruder und mich, wie wir uns mit nichts anderem beschäftigen, als wie wir das Lernwerk immer noch besser machen können.
Mit diesen Gedanken bin ich zu der Sendung am Samstag ins Studio gegangen. Tatsächlich wurde gar nichts Negatives über Nachhilfe gesagt. Es schien allgemeiner Konsens zu sein, dass man sie braucht. Wichtiger schien allen Beteiligten, dass die Schule sich vertieft der Qualitätsfrage stellen muss. Aber bei diesem Thema rennt man bei mir offene Türen ein.